Nach dem Festival ist vor dem Festival: Locarno 2022
- Publiziert am 21. August 2022
Kritik kann im besten Fall Veränderungen anstossen. Locarno täte gut daran.
Was macht ein Filmfestival zu einem Erfolg und welche neuen und alten Bedürfnisse sind es, denen eine solches Event gerecht werden muss? Zum 75. Jubiläum des Locarno Film Festival gilt es ganz genau hinzuschauen und sich zu fragen, welche Filme eigentlich auf die ganz grosse Leinwand gehören und welche mit Sicherheit nicht. Eine Manöverkritik von Silvia Posavec.
Ein Festivalrückblick
von Silvia Posavec
Was einem anderenorts schnell als fragwürdiges Modestatement ausgelegt würde, steht in Locarno jeden Sommer insgeheim für eine kleine Auszeichnung: Wer eine Tasche oder ein Schlüsselband mit Leoprint trägt, der gehört dazu. Rund um Locarnos Piazza Grande wimmelte es in diesem Jahr nur so von gelb-schwarzen Variationen des Musters, die irgendwie auch Reminiszenzen an vergangene Festivalausgaben darstellen. Auch wenn die Jutetaschen und Bändeli selbstverständlich nicht die ganzen sagenhaften 75 Jahre zurückreichen, die das Festival in der «nördlichsten Perle des Mittelmeers» (wie es im Buch, das zum Jubiläum herausgegeben wurde, wunderschön heisst, S. 22) nun schon existiert. Aber irgendetwas ist anders in diesem Jubiläumsjahr. Es fühlt sich fast schon nach einer Zäsur an, obwohl die Pressestelle im Nachhinein stolz verkündet, dass sich die Besucher:innenzahlen nach der Coronakrise super erholt haben – immerhin kam es im Vergleich zum Vorjahr zu einem Gesamtanstieg von 60.4 %. Aber ob auf der Piazza oder in den Kinosälen, kaum ein Film kann wirklich begeistern. Das wundersame Gefühl, das sich einstellt, wenn man einem Moment beiwohnt, der sich in das kollektive Gedächtnis einschreibt, will nicht kommen. Es bleibt der schale Eindruck übrig, dass man vielleicht nur hingegangen ist, um dabei gewesen zu sein.
Innovative Gesprächsrunden
Dabei lassen sich, wenn man seinen Blick auf das Drumherum richtet, viele wunderbare Bestrebungen erkennen. Ein breites Kinderprogramm bereichert das Festival und bringt so einer jungen Generation nicht nur Film, sondern auch die Kinokultur nahe. Ebenso bemüht sich das Locarno Film Festival, das schliesslich auch als Unternehmen betrachtet werden muss, um Transparenz und Nachhaltigkeit, indem es einen umfangreichen Bericht dazu publiziert (mit dem an dieser Stelle jetzt aber niemand gelangweilt werden soll). Am greifbarsten werden die Bemühungen um zeitgemässe Diskurse und Innovationen, wenn man einen Blick auf die Gesprächsrunden des Begleitprogramms wirft. Hier wurde, auch wenn nicht gerade in sehr zuversichtlichem Ton, über die Zukunft des Kinos debattiert («Cinema is Dead – Long Live Cinema», organisiert vom SVFJ, siehe arttv Beitrag), in einem 24 h Talk-Marathon das Prinzip der Aufmerksamkeitsökonomie ins Absurde geführt («The Future of Attention») und – eine Veranstaltung, die mir persönlich am lebhaftesten in Erinnerung bleiben wird – über Inklusion in der Filmindustrie gesprochen («Disability Inclusion in the Audiovisual Industry»). Die Sitzplätze des Forums im Spazio Cinema, das trotz seiner luftigen Gestaltung in diesem Sommer zur Hitzefalle wurde, blieben aber oft halb leer. In jedem der drei Fälle diskutierte die Branche leider nur mit sich selbst und bewies schwitzend ihre Ausdauer.
Unerfüllte Erwartungen an das Programm
Einzig die ausgewiesenen Filmstars des Festivals, wie etwa der charismatisch-exzentrische Udo Kier, zogen ein breiteres Publikum an, das dann auch in der Hitze ausharrte. Wieso die Gespräche oftmals am Nachmittag stattfinden mussten und man nicht spontan genug war, sich an die extremen Bedingungen des europaweiten Hitzesommers anzupassen, bleibt mir ein Rätsel. Doch es wird nicht nur an der schwülen Hitze gelegen haben, dass es so Manche schon nach einer Filmvorstellung vorzogen, in der restlichen Zeit lieber das kühle Nass aufzusuchen. Was war da also los mit dem diesjährigen Filmprogramm? Locarno ist und bleibt ein Publikumsfestival, das sich nach dem Hauptprogramm auf der Piazza richtet. Ein guter Piazza-Film spricht ein breites Publikum an und bietet aber trotzdem Denkanstösse. Er sollte festgefahrene Klischees und/oder Rollenmuster weder reproduzieren noch vereinfach, geschweige denn umkehren! Und filmisch sollte er wenn schon nicht innovativ, dann zumindest solide sein. Vielleicht ist damit der Massstab schon zu hoch angesetzt, aber aus meiner Sicht fielen (von der wunderbaren Retrospektive abgesehen) somit schon die meisten Filme durch – leider auch die zwei Schweizer Beiträge «Semret» und «Alles über Martin Suter». Schlecht müssen diese dafür trotzdem nicht gleich sein, aber es gelingt so manchem Filmwerk eben nicht, das Piazza-Format vollends auszuschöpfen. Und das liegt einzig und allein an der Programmierung des Festivals. Die Filme im Internationalen Wettbewerb erfüllen die Erwartungen ebenfalls nicht, denn der wirkte wie eine irritierende Sammlung experimenteller Genre-Clashes. Auch hart gesottene Arthouse-Fans liefen da etwas befremdet aus den Vorstellungen. Vielleicht lag es aber an den Ausläufern der Coronapandemie, dass die Filmauswahl an sich mässig war? Hat das Team um den Künstlerischen Leiter Giona A. Nazzaro zu früh versucht, zu einer in Wahrheit «alten Normalität» zurückzukehren?
Mutige Gewinnerfilme
Maskentragende Menschen tauchen in diesem Jahr eher in den Filmen als in den Filmvorstellungen auf. Wer bei den Pressekonferenzen aber genau hinhört, der bekommt noch einen Eindruck davon, welch enormen Herausforderungen Produzent:innen und Filmemacher:innen wegen Corona zu bewältigen hatten. Der Schweizer Kaspar Kasics geht damit offensiv um. Er baut in seinem neuen Dokumentarfilm «Erica Jong – Breaking The Wall» (der ausserhalb des Wettbewerbs lief) Tonaufnahmen der Zoom-Gespräche mit seiner Hauptprotagonistin in seine Erzählung ein, als er die titelgebende feministische Schriftstellerin nicht mehr in New York besuchen und filmen kann. Ein ausführliches Interview mit Kaspar Kasics auf arttv folgt zum Filmstart im Dezember. Gesamtgesehen wenden sich die Regisseur:innen mutig neuen Themen zu und glücklicherweise lassen sich am Ende doch noch einzelne Filmperlen finden. Verlass ist in diesem Jahr auf die Jury, die aus dem Vielzahl der so unterschiedlich zu bewertenden Filmbeiträge eine gute Auswahl getroffen hat. Als bester erster Film und bester Nachwuchsregisseur der Sektion Cineasti del presente wird der Kroate Juraj Lerotić mit «Sigurno mjesto» (Safe place) ausgezeichnet. In seinem autobiografischen Drama verarbeitet er den erschütternden Suizid seines Bruders und legt die Ohnmacht von Angehörigen offen, was einer überfälligen Enttabuisierung einer so komplexen Erfahrung gleichkommt. Ein, wenn man so will, ebenso «klassisches Drama» um eine intensiv-destruktive Vater-Tochter-Beziehung ist «Tengo sueños eléctricos» der französisch-costa-ricanischen Filmregisseurin Valentina Maurel, die als beste Regisseurin im Internationalen Wettbewerb ausgezeichnet wurde. Die Hauptrollen in diesem toxischen Coming of Age-Film spielen die Teenagerin Daniela Marín Navarro und Reinaldo Amien Gutiérrez, beide gehen sie verdient mit dem Pardo also beste Hauptdarstellerin und bester Hauptdarsteller nach Hause. Lobenswert ist ebenso, dass erstmals eine neu berufene WWF-Jury Filme aus ökologischer Perspektive bewertet. Sie werfen mit dem Grünen Pardo ein Schlaglicht auf den Dokumentarfilm «Matter Out Of Place» von Nikolaus Geyrhalter. Die 110-minütige filmische Meditation des Österreichers widmet sich wortlos eine scheinbaren weltweiten Konstante des menschlichen Wesens: der Müllproduktion. Ein Film, den ich mir persönlich als Gewinner des goldenen Leoparden gewünscht hätte. Doch dieser geht unerwartet an die Brasilianerin Julia Murat mit «Regra 34». Ihr Film handelt von einer modernen junge Frau, die eine zwiegespaltene Entwicklung durchlebt, in dem sie immer tiefer in die Welt von BDSM-Praktiken eintaucht.
Was gehört auf die grosse Leinwand?
Eine Szene des Gewinnerfilms ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Zwei Freundinnen kommen nach langer Zeit an einem Nachmittag wieder zusammen. Sie sitzen auf der Trasse, lackieren sich gegenseitig die Fussnägel und reden über Belanglosigkeiten. Es ist eine stinknormale Situation, die diese jungen Frauen aber in einem ausgelassenen Moment von natürlicher Intimität zeigt. Es sind solche Szenen, die auf der grossen Leinwand wirklich überfällig sind. Dahingegen erscheint es, als dürften die Frauen, denen man in den Piazza-Filmen begegnet, auf keinen Fall gewöhnlich sein. Ich frage mich, wieso eine Juliette Binoche als Truckerin in «Paradise Highway» absurde Wettrennen mit der Zeit fahren muss oder Sophie Marceau als toughe Polizistin zur Rächerin mit Pfeil und Bogen wird – und das auch noch in einem Film, der «Une femme de notre temps» heisst? Von allen Piazza-Filmen hat dem Publikum übrigens die seichte Komödie «Last Dance» von Delphine Leherciey am besten gefallen, darin geht es um einen tanzenden Witwer, der die meiste Zeit im Pyjama durch das Bild rennt. Ich wünsche mir mehr Mut bei der Programmierung und Glaube, dass man auch einem grossen Publikum Filme mit komplexeren Charakteren und tiefgreifenderen Thematiken zeigen kann. Es braucht neue Narrative, altbekannte Zugpferde haben ausgedient. Dieses Jahr hat bewiesen, dass das Publikum auf die Piazza kommen will – also wieso kann man ihnen nicht von vorn hinein die Filme vorstellen, die wirklich einen Unterschied machen? Zurück zu Hause habe ich mein Bändeli und meine Locarno-Tasche 2022 in die Schublade zu den anderen gelegt. Nachhaltig wäre es doch, wenn ich im 2023 einfach wieder damit teilnehmen könnte. Zumindest an dieser Front müsste sich das Festival im nächsten Jahr nicht unbedingt neu erfinden.