«Als Kind gehörte ich weder zur Jungen- noch zur Mädchengruppe.»
Der flämische Regisseur Lukas Dhont hat mit «Close» einen wunderbaren Film gedreht. Zeit für ein Interview
«Ich wollte zeigen, dass der adoleszente Leo sich danach sehnt, zu dieser stereotypen, männlichen, maskulinen Welt zu gehören». Der flämische Regisseur darüber, was sein Film mit seiner eigenen Biografie zu tun hat. Was es für ihn bedeutet hat, ein sanfter Junge zu sein. Warum es ihm wichtig war, einen Film über Männlichkeit zu drehen und welches Werk des Künstlers David Hockney «Close» den Titel gab.
Mit Lukas Dhont sprach Ondin Perier
Sie waren vor vier Jahren bei den Filmfestspielen in Cannes mit «Girl», der mit der Goldenen Kamera ausgezeichnet wurde. Dieses Jahr stellten Sie «Close» vor, der an demselben Festival den Grossen Preis gewann. Was war der Ausgangspunkt für «Close»?
Wir waren fast zwei Jahre mit «Girl» unterwegs, dann ging es zurück an den Start, auf eine «leere Seite». Das war ein ziemlich seltsames Gefühl, denn die Arbeit an «Girl» hatte begonnen als ich 18 Jahre alt war. Das Schreiben dieses Films war für mich sehr körperlich, sehr in Verbindung mit einem tiefen Verlangen, das aus dem Körper herauskommen musste. Als ich vor diesem «leeren Blatt» für «Close» sass, hatte ich das Gefühl zu kopflastig zu sein, zu hohe Erwartungen an mich selbst zu haben, an allem zu zweifeln. Zweifeln ist für mich zwar etwas sehr Wichtiges in meinem kreativen Prozess, aber nicht wenn du
beginnst alles in Frage zu stellen.
Sie wussten aber, was für einen Film Sie machen möchten?
Ich wusste, dass ich etwas über Männlichkeit machen will. Dann kam die Pandemie, in der wir nicht mehr miteinander verbunden waren und uns eingeengt fühlten. Das hat mich dazu gebracht, darüber nachzudenken, wie wichtig es ist, intime Beziehungen und Freundschaft voneinander zu trennen. Für mich ist Freundschaft ein komplexes Thema. Als Kind war ich ein sehr sanfter Junge und hatte das Gefühl, dass ich weder zur Jungen- noch zur Mädchengruppe gehöre. Als Teenager hatte ich Angst vor intimen Annäherungen an andere Jungs. Aufgrund meiner weichen Seite wurde, wenn ich einem anderen Jungen näher kam, das sofort als Liebesbeziehung wahrgenommen. Das konnte andere Jungs blockieren, aber manchmal auch mich selbst. Ich habe mich darum von allen distanziert, die mir wichtig waren.
Sie sind also als Kind selber auch in die Rolle von Leo geschlüpft?
Ja, das bin ich wirklich. Und das war eine sehr spezifische Erfahrung, die ich gemacht habe und die mich geprägt hat. Später bin ich auf ein Buch der amerikanischen Psychologin Niobe Way gestossen, das den Titel «Deep Secrets» (2011) trägt. Way hat 150 amerikanische Jungen im Alter zwischen 13 und 18 Jahren begleitet. Im Alter von 13 Jahren bat sie die Knaben, über ihre Freundschaften mit anderen Jungs zu sprechen. Die Jungs sprachen in diesem Alter über ihre Freunde als wären es Liebesgeschichten. Ihr bester Freund war die wichtigste Person für sie, mit der sie alle ihre Geheimnisse teilen. Das ist sehr intim. Wir sind in der Erwachsenenwelt nicht so sehr an diese Männerbilder von sinnlichen Freundschaften zwischen Jungen gewöhnt. Kurzum, im Alter von 15, 16, 17, 18 Jahren stellt die Psychologin denselben Jungen erneut die Frage und stellt fest, dass sich die gleichen jungen Männer nicht mehr trauen, ihre Liebe füreinander auszudrücken. Sie sieht, wie die Normen, die Codes und die Männlichkeit beginnen, auf ihnen zu lasten. Und da habe ich gemerkt, dass meine persönliche Erfahrung viel breiter und wirklich universell ist. Das wollte ich zeigen oder darüber sprechen, diesen Bruch, aber auch Bilder einer sinnlichen Freundschaft schaffen.
Sie filmen die Adoleszenz mit viel Einfühlungsvermögen und Sensibilität. Für Sie erscheint sie als eine entscheidende Etappe im Leben, warum die Faszination für diese Zeit?
Für mich gibt es einen echten Bruch zwischen Kindheit und Jugend. In der Kindheit ist unser Blick noch sehr auf uns selbst gerichtet. Die Beziehung zu unserem Inneren ist noch nah. Wenn wir in die Sekundarstufe kommen, wenn die Adoleszenz einsetzt, werden wir zum ersten Mal mit der Gesellschaft konfrontiert, mit Normen, Codes, Erwartungen. Das ist der Punkt an dem man anfängt, Akteur seines Lebens zu werden, weil man einer Gruppe angehören möchte, man möchte Teil dieser Gesellschaft sein. Ja, es gibt für mich diesen ganz bestimmten Moment zwischen Kindheit und Jugend, in dem man sich verändert, es ist ein transformativer Prozess.
Leos Identitätssuche durch seinen Beitritt zum Hockeyverein, das ständige Reden über Fussball mit dieser neuen Gruppe von Grossmäulern in der Schule scheint eher von dem Wunsch geleitet zu sein, von der Gruppe akzeptiert zu werden, als von einem aufrichtigen Wunsch nach Selbstverwirklichung?
Ich weiss nicht, ob es nicht aufrichtig ist. Es ist einfach so, dass es Zeiten gibt in denen man einer Gruppe mehr Wert beimisst als einer einzelnen Person. Eine neue Umgebung kann die Richtung des Lebensweges ändern. Ich weiss darum nicht, ob Leos Verhalten nicht aufrichtig ist, aber was ich auf jeden Fall zeigen wollte, ist, dass Leo sich danach sehnt, zu dieser stereotypen, männlichen, maskulinen Welt zu gehören.
Remi, sein anfänglicher Freund, wirkt aufrichtiger in seiner Haltung. Er lässt sich nicht durch die Bemerkungen der anderen verbiegen.
Ja, aber er ist auch das Opfer. Er hat zwar eine andere Beziehung dazu was von Jungs erwartet wird, aber er ist auch jemand, der mit einer enormen Zerbrechlichkeit ausgestattet ist. In unserer Gesellschaft gibt es leider nicht immer Platz für Zerbrechlichkeit, für Zärtlichkeit.
Die beiden Familien in Ihrem Film erscheinen als ein Zufluchtsort des Wohlwollens, die im Gegensatz zum Schulhof stehen, der ein Ort der Bedrohung und Gefahr darstellt. War es Ihre Absicht, diesen Kontrast zu betonen?
Ich wollte über eine breitere Gesellschaft sprechen, und der Schulhof war für mich das Mittel dazu, weil ich hier für diese Jugendlichen, die zum ersten Mal mit Hierarchien, Gruppen, Normen der Sexualität und den Blicken anderer auf ihre sinnliche Freundschaft konfrontiert werden, das Thema erweitern konnte. Deshalb sah ich auch nicht wirklich einen Sinn darin, Eltern zu zeigen, die nicht wohlwollend sind. Ich versuche ohnehin immer, ein Form des Wohlwollens in allen meinen Figuren zu zeigen. Es war mir wichtig, ein wohlwollendes Familienumfeld zu schaffen, auch wenn es den Kindern nicht immer gelingt, ihre Gefühle gegenüber ihren Eltern auszudrücken.
Die Zeitung «Le Monde» schrieb über Ihren Film «la rencontre entre Xavier Dolan et les frères Dardenne», inwieweit hat Sie die Arbeit dieser Filmemacher tatsächlich inspiriert?
Ich verehre und bewundere alle drei. Zunächst einmal benutzen die Brüder Dardenne ihre Kamera wie ein Choreograph und ich fühle mich dieser Idee der Choreographie nahe, da ich Tänzer werden wollte, bevor ich Regisseur wurde. Xavier Dolan ist jemand, der die Linien verschiebt, die Codes bricht, auf hyperinteressante Weise über das Genre spricht und auch eine sehr starke Visualisierung hat.
«Close˚ ist übrigens wunderbar gefilmt, die Blumenfelder, die Natur, die Jahreszeiten. Der Film ist lichtdurchflutet, einige Szenen auf den Feldern erinnern an Gemälde, ist die Malerei auch eine Inspiration für einige Ihrer Aufnahmen?
Natürlich, ich bin ein grosser Fan von David Hockney. Der erste Titel für «Close» basierte übrigens auf einem seiner Werke mit dem Titel «We Two Boys Together Clinging».